Architektur: Landleben am Hang, mitten in Stuttgart
Mit viel Geduld und Handarbeit entstand auf einer Streuobstwiese in Stuttgarter Hanglage ein gemütliches Familienheim
Atemberaubend ist der Blick vom kleinen Einfamilienhaus über Stuttgart. Trotz der guten Lage – zugleich mitten im Grünen und mitten in der Stadt – waren die Interessenten aufgrund baurechtlicher Auflagen und der anspruchsvollen Hanglage lange Zeit rar. Doch schließlich wagte sich eine fünfköpfige Familie an das Abenteuer. Für das Genehmigungsverfahren brachten die Bauherren viel Geduld mit und verpflichteten Architekt Holger Lohrmann, der sein eignes Haus bereits in Stuttgarter Hanglage gebaut hatte und daher genau wusste, was er tat.
„Die Bauherren hatten Mut, dieses unkonventionelle Grundstück zu erwerben. In der gesamten Bauzeit haben sie dann unglaubliche Gelassenheit gezeigt. Im Grunde ist das Haus ein Manifest der Gelassenheit“, lobt Lohrmann. Und gleichmut war im Umgang mit den baurechtlichen Auflagen samt langwierigem Genehmigungsprozess wahrlich gefordert. Denn wo heute das neue Holzhaus mit seinem biberschwanzgedeckten Dach steht, stand bereits ein Gebäude aus der Nachkriegszeit, das in die Planung einbezogen werden musste. Sein Sockelgeschoss wurde erhalten und ertüchtigt, während Erdgeschoss und Dach abgetragen wurden.
VORHER: Das Bestandsgebäude wurde bis auf das Sockelgeschoss abgetragen. „Das Haus liegt 70 Meter von der Straße entfernt. Einen großen Kran aufzustellen, ließ das Budget nicht zu. Mit einem kleineren Kran war nur die Mitte des Grundstücks erreichbar. Von dort musste viel per Hand zur Baustelle getragen werden. Um so zu bauen, müssen die Handwerker wirklich Spaß an ihrer Arbeit haben“, sagt der Architekt. Unter anderem haben acht Zimmerleute die große Firstpfette auf Schultern das letzte Stück getragen und ohne Kran auf den First gewuchtet.
Das baulich ertüchtigte Sockelgeschoss beherbergt jetzt die drei Kinderzimmer, das Kinderbad, eine Toilette, den Haustechnikraum und einen großzügigen Spielflur. „Wir haben für den Grundriss ein Kammer-Stube-Prinzip angewendet. Die Schlafräume oder Kammern sind relativ klein, bieten aber auf Wunsch einen Rückzugsort. Was früher die Stube war, ist in diesem Haus der gesamte restliche, offene Wohnraum. Hier findet das gemeinschaftliche Leben statt“, erklärt Lohrmann. Überhaupt hat er sich aufgrund des besonderen Ortes bei Materialwahl und Ausführung an historischen Vorbildern orientiert.
Das Sockelgeschoss ist mit Kellenwurfputz verkleidet, einer für süddeutsche Bauernhäuser traditionellen Putzart. Dabei wird der Mörtel mit einer Kelle gegen die Wand geworfen und danach nicht glattgestrichen. Indem sich Mörtelfladen an Mörtelfladen reiht, entsteht eine markante Struktur.
In Holzständerbauweise wurden Erd- und Dachgeschoss auf das Sockelgeschoss gesetzt und mit sägerauen, unbehandelten Douglasienbrettern in drei verschiedenen Breiten verkleidet.
Die vergleichsweise leichte Holzbauweise war aufgrund der Grundstücksgegebenheiten von Vorteil. „Holz passt einerseits zur Thematik eines einfachen, bäuerlichen Hauses. Andererseits kam es uns auch bautechnisch entgegen, da wir Material in kleinen Teilen von dem Lagerplatz in der Mitte des Grundstücks bis zur Baustelle tragen konnten“, erinnert sich Lohrmann. „Manche Dinge haben wir wie früher gebaut. Schon deshalb war es für viele der Handwerker eine besondere Baustelle.“
Bretter, die die Welt bedeuten: Holzfassaden und ihre Konstruktion
In Holzständerbauweise wurden Erd- und Dachgeschoss auf das Sockelgeschoss gesetzt und mit sägerauen, unbehandelten Douglasienbrettern in drei verschiedenen Breiten verkleidet.
Die vergleichsweise leichte Holzbauweise war aufgrund der Grundstücksgegebenheiten von Vorteil. „Holz passt einerseits zur Thematik eines einfachen, bäuerlichen Hauses. Andererseits kam es uns auch bautechnisch entgegen, da wir Material in kleinen Teilen von dem Lagerplatz in der Mitte des Grundstücks bis zur Baustelle tragen konnten“, erinnert sich Lohrmann. „Manche Dinge haben wir wie früher gebaut. Schon deshalb war es für viele der Handwerker eine besondere Baustelle.“
Bretter, die die Welt bedeuten: Holzfassaden und ihre Konstruktion
Die raumhohen Klappläden im Sockelgeschoss, in dem die Kinder wohnen, erinnern mit ihren langen Beschlägen an große Scheunentore. Wie diese sind sie mit diagonalen Brettern an der Innenseite ausgesteift. Die Läden lassen sich zur Mitte hin auffalten.
Darüber liegt der große Wohnraum mit Küche, Essplatz und Sitzecke.
Echte Torchancen: Mit alten Scheunentoren wohnen
Darüber liegt der große Wohnraum mit Küche, Essplatz und Sitzecke.
Echte Torchancen: Mit alten Scheunentoren wohnen
„Wir wollten die Dinge so zeigen, wie sie sind“, erklärt der Architekt. In der Küche offenbart sich dieser Ansatz in der bewusst zugelassenen Rauheit von Betonwänden und -decke. Der Raum dient als aussteifender Kern der Holzkonstruktion. Nester im Beton und Verschalungsnähte wurden nicht kaschiert und geben dem Haus Persönlichkeit. Die vom Architekten entworfene Küche hat ein Schreiner aus geölten MDF-Platten gebaut. Die ausgefallenen Griffe sind ein Hingucker. „Wir hatten gerade für ein anderes Projekt eine Materialcollage für einen Waschraum im Büro liegen, als die Bauherrenfamilie kam. Sie haben sich sofort für diese Griffe begeistert, und so haben wir sie eingebaut“, erinnert sich Lohrmann.
In der Fluchtlinie der Kücheninsel liegt das Esszimmer.
In der Fluchtlinie der Kücheninsel liegt das Esszimmer.
Wände und Decke sind hier mit unbehandelten Weißtannenbrettern verkleidet. Auffallend zurückhaltend sind die schlichten Bakelitfassungen der Lampen. Aus demselben Material wurden auch Lichtschalter und Steckdosen gewählt. „Die Magie entsteht in kleinen Details“, erklärt der Architekt. Und in diesem Haus sicher auch durch die Lage und den unbeschreiblichen Ausblick.
Der Ausblick lässt sich auch vom großen Sitzfenster aus genießen, das dem Esstisch gegenüberliegt. Daneben führt eine Holztreppe ins Dachgeschoss. Der kühl anmutende, gewachste Estrich ist durch die Fußbodenheizung angenehm fußwarm. Geheizt wird mit einer Gasbrennwerttherme. Glücklicherweise war bereits ein Nachbargebäude an das Erdgasnetz angeschlossen, dessen Leitung einfach verlängert werden konnte.
Das Treppenhaus ist vom Untergeschoss bis ins Dach offen und schenkt dem Haus so zusätzliche Großzügigkeit. „Für das Treppengeländer haben wir auf einen Bausatz aus dem Denkmalschutzbereich zurückgegriffen“, verrät Lohrmann. Das schmiedeeiserne Geländer besteht, wie die Absturzsicherungen vor den Fenstern, aus unlackiertem Rohstahl und weist bereits erste Stellen von Flugrost auf. Wieder einmal zeigt sich hier die Gelassenheit der Bauherren. „Wir mussten nicht lackieren, nur um den Ursprungszustand zu erhalten“, sagt der Architekt.
Im Dachgeschoss liegt zum vorderen Giebel hin der Schlafbereich der Eltern mit Ankleide und Badezimmer. Die Lattung vor den Fenstern ist alten Tabakscheunen nachempfunden. Sie lässt sich zur Revision öffnen, ist aber vor allem als Sonnenschutz und Absturzsicherung gedacht. „Wir haben für die Lattung 1:1-Modelle gebaut. Wir wollten einen Abstand, der größtmögliche Ausblicke bei optimalem Sonnenschutz bietet“, erklärt Lohrmann.
Der Fußboden aus geölten Eichendielen schafft im Dachgeschoss eine heimelige Atmosphäre – ebenso wie die Verkleidung der Wände und Dachschrägen aus Weißtanne.
Der Fußboden aus geölten Eichendielen schafft im Dachgeschoss eine heimelige Atmosphäre – ebenso wie die Verkleidung der Wände und Dachschrägen aus Weißtanne.
Vor dem Elternschlafzimmer liegt ein ebenfalls bis unter den First offener Raum. Er wird als Wohn- und Arbeitszimmer genutzt. Der maßgefertigte Schreibtisch ist aus demselben Material wie die Küche und ebenfalls vom Architekturbüro entworfen. Von diesem Raum aus geht es auch auf einen sogenannten Altan, einen abgestützten Austritt, hinaus. Der überdachte Sitzplatz im Freien war ein Wunsch der Bauherren und bietet zusätzlichen Raum und Ausblick.
Die Umgebung des Hauses lädt geradezu ein, drinnen und draußen zu verbinden. Die Küche hat einen direkten Zugang zum Garten und zum Hof. Der Haupteingang ist allerdings nicht hier, sondern neben der siloartigen Konstruktion an der Giebelseite.
Im Inneren der Silokonstruktion verbirgt sich eine verzinkte Spindeltreppe. „Die Feuerwehr hatte uns diese Treppe abverlangt. Zuerst haben wir darin ein Hindernis gesehen. Doch dann kam uns die Idee, die Treppe ebenfalls zu verkleiden. Sie macht das Haus skulpturaler. Die Kinder nutzen sie gerne, um aus dem Dachgeschoss direkt in den Garten zu gelangen“, erzählt der Architekt. „Es gibt immer eine gute Lösung. Nach ihr zu suchen, macht ein Projekt spannend.“
Inspiration für gute Lösungen holt sich der Architekt gerne in traditionellen Bauweisen, aber auch bei Kollegen. „Wir waren bei der Grundfläche des Baukörpers recht beschränkt. Darum haben wir durch ein kleines Nebengebäude einen Hof definiert. Ähnlich, wie es der Schweizer Architekt Luigi Snozzi gerne macht“, erklärt Lohrmann. „Wir wollten einen Ort schaffen, nicht nur ein Haus bauen.“ Wie sehr das gelungen ist, drücken die Kinder der Bauherren in einem Brief an das Architekturbüro aus. Darin steht: „Wir wohnen in dem schönsten Haus der Welt.“
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Hier wohnt: eine Familie mit drei Kindern
In: Stuttgart-Gablenberg
Auf: 147 Quadratmetern Wohnfläche plus 15 Quadratmetern Nutzfläche auf einem 600 Quadratmeter großen Grundstück
Besonderheit: innerstädtisches Wohnen in steiler Hanglage auf einer Streuobstwiese
Experten: Lohrmannarchitekt
Fotos: Volker Schrank
Luftbilder mit Drohne: Marc Feigenspan