Architektur
Interview mit Alejandro Aravena: „Privathäuser sind pure Psychologie"
Der Pritzker-Preisträger und Kurator der Architekturbiennale Venedig 2016 verrät uns die Schlüsselformeln seiner Arbeit
Das Werk des Chilenen Alejandro Aravena ist vielschichtig. Er findet, es sei die vordringlichste Aufgabe eines Architekten, die widersprüchlichen Anliegen der Gemeinschaft in Zeichnungen und Entwurfsmodellen zusammenzufassen. Und so sind die Gebäude Aravenas und seines Büros Elemental wie Schmelztiegel. Die Quinta Monroy in der chilenischen Stadt Iquique, die Siamesischen Türme der Katholischen Universität von Chile oder der Sozialwohnungskomplex im mexikanischen Monterrey entstanden in langen Dialog-, Beratungs- und Begleitprozessen – die man ihnen heute nicht ansieht, aber nachhaltig spürt. Dieser Anspruch hat ihm Anfang des Jahres im Alter von 47 Jahren den Pritzker-Preis eingebracht. Als Kurator hat er zudem die diesjährige Architektur-Biennale in Venedig geprägt. Über seinen integrativen Arbeitsansatz spricht er mit uns im Interview.
Wohnhäuser Villa Verde (2013), Constitución, Chile
Foto: Elemental
Wie lautet die Manhattan-Formel, mit der die Entstehung einer ewig weiterbestehenden Favela abgewendet werden kann?
In Manhattan beträgt das Verhältnis zwischen jedem Quadratmeter öffentlichen Raums und jedem Quadratmeter privaten Raums 1:1. Geht man in eine Favela, so ändert sich dieses Verhältnis spontan zu unter 1:10. Schafft man es, ein Verhältnis von 1:1 aufrechtzuerhalten, so erleben die individuellen Tätigkeiten im Laufe der Zeit eine Wertsteigerung, sowohl hinsichtlich des wirtschaftlichen Werts als auch der Lebensqualität.
Foto: Elemental
Wie lautet die Manhattan-Formel, mit der die Entstehung einer ewig weiterbestehenden Favela abgewendet werden kann?
In Manhattan beträgt das Verhältnis zwischen jedem Quadratmeter öffentlichen Raums und jedem Quadratmeter privaten Raums 1:1. Geht man in eine Favela, so ändert sich dieses Verhältnis spontan zu unter 1:10. Schafft man es, ein Verhältnis von 1:1 aufrechtzuerhalten, so erleben die individuellen Tätigkeiten im Laufe der Zeit eine Wertsteigerung, sowohl hinsichtlich des wirtschaftlichen Werts als auch der Lebensqualität.
Wohnhäuser in Monterrey (2010), Monterrey, Mexiko
Foto: Ramiro Ramírez
Wenn wir doch wissen, wo das Problem liegt, was hindert uns noch daran, gute Städte zu planen?
Das ist eine komplexe Angelegenheit. Schwache Institutionen, Korruption und weitere Probleme unterminieren die Qualität in Afrika, Indien und China. In den USA beispielsweise hängt die Trivialität oder Mediokrität der Bauwerke eher damit zusammen, dass alle Angst vor einem Anwalt haben, der einen verklagen könnte. Niemand bewegt sich auch nur einen Millimeter von den Vorgaben weg. Kurzum, während in den Entwicklungsländern mangelnde Regulierung ein Problem darstellt, ist es in den Industrieländern vielmehr die Überregulierung, durch die ein Klima der Mediokrität entsteht.
Foto: Ramiro Ramírez
Wenn wir doch wissen, wo das Problem liegt, was hindert uns noch daran, gute Städte zu planen?
Das ist eine komplexe Angelegenheit. Schwache Institutionen, Korruption und weitere Probleme unterminieren die Qualität in Afrika, Indien und China. In den USA beispielsweise hängt die Trivialität oder Mediokrität der Bauwerke eher damit zusammen, dass alle Angst vor einem Anwalt haben, der einen verklagen könnte. Niemand bewegt sich auch nur einen Millimeter von den Vorgaben weg. Kurzum, während in den Entwicklungsländern mangelnde Regulierung ein Problem darstellt, ist es in den Industrieländern vielmehr die Überregulierung, durch die ein Klima der Mediokrität entsteht.
Fakultät für Mathematik (1999), Katholische Universität von Chile, Santiago, Chile
Foto: Tadeuz Jalocha
Hängt die hohe Qualität chilenischer und lateinamerikanischer Architektur mit dieser sich gewissermaßen selbst eingeräumten Freiheit zusammen − etwas, das in der „Ersten Welt“ so nicht zulässig ist?
Ich denke, dass viele komplexe und interessante Projekte das Produkt außergewöhnlicher Umstände sind. Wenn ein Land vor einer sozialen Krise steht oder mit einer Naturkatastrophe konfrontiert ist, in deren Folge Tausende Menschen auf der Straße stehen, ist die politische Stabilität des Landes in Gefahr, das ganze Land befindet sich in einer Krise. Es mag zwar wie ein Klischee klingen, aber tatsächlich eröffnet sich hierdurch ein neues Handlungsfenster. Die Migrationskrise in Europa wird zwangsläufig dazu führen, dass − noch bevor kreative Lösungen oder Erfindungen für die Unterbringung der Flüchtlinge formuliert werden − die Regulierung geändert wird.
Foto: Tadeuz Jalocha
Hängt die hohe Qualität chilenischer und lateinamerikanischer Architektur mit dieser sich gewissermaßen selbst eingeräumten Freiheit zusammen − etwas, das in der „Ersten Welt“ so nicht zulässig ist?
Ich denke, dass viele komplexe und interessante Projekte das Produkt außergewöhnlicher Umstände sind. Wenn ein Land vor einer sozialen Krise steht oder mit einer Naturkatastrophe konfrontiert ist, in deren Folge Tausende Menschen auf der Straße stehen, ist die politische Stabilität des Landes in Gefahr, das ganze Land befindet sich in einer Krise. Es mag zwar wie ein Klischee klingen, aber tatsächlich eröffnet sich hierdurch ein neues Handlungsfenster. Die Migrationskrise in Europa wird zwangsläufig dazu führen, dass − noch bevor kreative Lösungen oder Erfindungen für die Unterbringung der Flüchtlinge formuliert werden − die Regulierung geändert wird.
Skizze der Siamesischen Türme (2005), San Joaquín-Campus, Katholische Universität Chile, Santiago, Chile
Foto: Elemental
Wann ist die Arbeit einfacher: Wenn Ihnen als Bauherr eine Gemeinschaft gegenübersteht, oder wenn eine einzelne Person entscheidet, die Sie mit dem Bau eines Gebäudes beauftragt?
Am allerschlimmsten ist der Privatkunde, der sich sein eigenes Haus baut. Ich bin genau aus diesem Grund der Meinung, dass ein Privathaus beinahe nicht mehr als Architektur gelten kann. Es ist ein hochgradig persönliches Problem − beinahe so etwas wie pure Psychologie in Gebäudeform. ,Ich hätte es gerne genau so, weil es mir so gefällt.’ Es ist äußerst schwierig, jemandem etwas über sein Haus zu sagen, weil jeder das Recht auf seinen individuellen Geschmack und seine Vorlieben hat.
Bei einer Institution schafft man zunächst einmal ein Gebäude, das rein physisch gesehen über 100 Jahre Bestand haben wird. Insofern muss man in der Lage sein, das Gebäude von Fragen des persönlichen Geschmacks zu befreien − auch wenn es der des Firmeninhabers ist. Es gibt eine Art Zeithorizont, der über das Individuum hinausgeht, so wird es einfacher, stets die Qualität des Endergebnisses im Blick zu behalten.
Foto: Elemental
Wann ist die Arbeit einfacher: Wenn Ihnen als Bauherr eine Gemeinschaft gegenübersteht, oder wenn eine einzelne Person entscheidet, die Sie mit dem Bau eines Gebäudes beauftragt?
Am allerschlimmsten ist der Privatkunde, der sich sein eigenes Haus baut. Ich bin genau aus diesem Grund der Meinung, dass ein Privathaus beinahe nicht mehr als Architektur gelten kann. Es ist ein hochgradig persönliches Problem − beinahe so etwas wie pure Psychologie in Gebäudeform. ,Ich hätte es gerne genau so, weil es mir so gefällt.’ Es ist äußerst schwierig, jemandem etwas über sein Haus zu sagen, weil jeder das Recht auf seinen individuellen Geschmack und seine Vorlieben hat.
Bei einer Institution schafft man zunächst einmal ein Gebäude, das rein physisch gesehen über 100 Jahre Bestand haben wird. Insofern muss man in der Lage sein, das Gebäude von Fragen des persönlichen Geschmacks zu befreien − auch wenn es der des Firmeninhabers ist. Es gibt eine Art Zeithorizont, der über das Individuum hinausgeht, so wird es einfacher, stets die Qualität des Endergebnisses im Blick zu behalten.
Foto: Elemental
Wie können die Menschen in ihre Wohnkonzepte und die Stadtplanung miteinbezogen werden?
Es gibt keine lange Tradition in diesem Bereich. Man müsste daher zunächst analysieren, was genau unter Partizipation verstanden wird. Über ein Referendum mit einem Ja oder Nein zu einer bestimmten Landstraße oder eine Änderung im Regulierungsbereich oder ähnliches hinausgehend, muss erst einmal herausgefunden werden, welche Frage überhaupt beantwortet werden muss.
Genau in diesem Bereich verfügen wir allgemein über wenig Erfahrung. Es geht nicht nur darum, im Sinne der Political Correctness so etwas zu sagen wie ,Hey, lasst uns die Menschen fragen.’ Denn wenn man die Menschen nicht fragt, neigt man als Architekt leicht dazu, Antworten auf die falschen Problemstellungen zu geben.
Als wir nach dem Erd- und Seebeben, das die Südküste Chiles verwüstet hatte, die Menschen in Constitución befragt haben, tauchten drei Probleme auf, an die wir bei der Frage, was die Menschen wollen, nicht einmal ansatzweise bedacht hatten. Die Menschen hatten eine andere Agenda. Es ist völlig normal, nicht ausreichend Zeit oder Mittel zu haben, um all das zu tun, was man tun sollte. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen ihre Prioritäten darlegen.
Wie können die Menschen in ihre Wohnkonzepte und die Stadtplanung miteinbezogen werden?
Es gibt keine lange Tradition in diesem Bereich. Man müsste daher zunächst analysieren, was genau unter Partizipation verstanden wird. Über ein Referendum mit einem Ja oder Nein zu einer bestimmten Landstraße oder eine Änderung im Regulierungsbereich oder ähnliches hinausgehend, muss erst einmal herausgefunden werden, welche Frage überhaupt beantwortet werden muss.
Genau in diesem Bereich verfügen wir allgemein über wenig Erfahrung. Es geht nicht nur darum, im Sinne der Political Correctness so etwas zu sagen wie ,Hey, lasst uns die Menschen fragen.’ Denn wenn man die Menschen nicht fragt, neigt man als Architekt leicht dazu, Antworten auf die falschen Problemstellungen zu geben.
Als wir nach dem Erd- und Seebeben, das die Südküste Chiles verwüstet hatte, die Menschen in Constitución befragt haben, tauchten drei Probleme auf, an die wir bei der Frage, was die Menschen wollen, nicht einmal ansatzweise bedacht hatten. Die Menschen hatten eine andere Agenda. Es ist völlig normal, nicht ausreichend Zeit oder Mittel zu haben, um all das zu tun, was man tun sollte. Umso wichtiger ist es, dass die Menschen ihre Prioritäten darlegen.
Innovationszentrum UC, Santiago de Chile (2013)
Foto: Nina Vidic
Sie sagen, dass das Wesen von Architektur darin besteht, den Gemeinsinn mit ins Spiel zu bringen. Wie wird der Gemeinsinn innerhalb einer Gemeinschaft mit völlig unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen verwirklicht?
Wenn man 100 Menschen fragt, bekommt man keine Durchschnittsantwort. Vielmehr setzt sich − aus irgendeinem mysteriösen Grund − bei einer ehrlich geführten Diskussion letztlich der Gemeinsinn durch und dieser Gemeinsinn ist ziemlich solide. Was ich hiermit sagen möchte ist, dass, wenn man eine Diskussion innerhalb der Gemeinschaft führt, die Prozesse schwieriger sein können, die Integrität des Ergebnisses ist allerdings eher sichergestellt, da es sich von der Individualität abgesetzt hat.
Welche Rolle spielt der Architekt in diesem Dialog?
Ich persönlich nehme eine von der Architektur weit entfernte Perspektive ein, um dann eine graphische Adaptation vorzunehmen. Ein Projekt ist dann wirklich gut und erfolgreich, wenn es mir gelungen ist, alle von mir eben genannten sozialen Belange korrekt zu bündeln.
Foto: Nina Vidic
Sie sagen, dass das Wesen von Architektur darin besteht, den Gemeinsinn mit ins Spiel zu bringen. Wie wird der Gemeinsinn innerhalb einer Gemeinschaft mit völlig unterschiedlichen und gegensätzlichen Interessen verwirklicht?
Wenn man 100 Menschen fragt, bekommt man keine Durchschnittsantwort. Vielmehr setzt sich − aus irgendeinem mysteriösen Grund − bei einer ehrlich geführten Diskussion letztlich der Gemeinsinn durch und dieser Gemeinsinn ist ziemlich solide. Was ich hiermit sagen möchte ist, dass, wenn man eine Diskussion innerhalb der Gemeinschaft führt, die Prozesse schwieriger sein können, die Integrität des Ergebnisses ist allerdings eher sichergestellt, da es sich von der Individualität abgesetzt hat.
Welche Rolle spielt der Architekt in diesem Dialog?
Ich persönlich nehme eine von der Architektur weit entfernte Perspektive ein, um dann eine graphische Adaptation vorzunehmen. Ein Projekt ist dann wirklich gut und erfolgreich, wenn es mir gelungen ist, alle von mir eben genannten sozialen Belange korrekt zu bündeln.
Innenräume der Wohnanlage Quinta Monroy (2004), Iquique, Chile
Fotos: Ludovic Dusuzean und Tadeuz Jalocha (unteres Foto)
Es gibt ein anderes, älteres Architekturmodell, bei dem – ausgehend von der Stadtplanung – eine bestimmte Art Stadtbürger geschaffen werden soll. Auf diese Weise sind Baron Haussmann in Paris oder Lucio Costa und Niemeyer in Brasilia vorgegangen. Wie stehen Sie zu diesem Konzept von Architektur?
Diese messianische Herangehensweise, bei der davon ausgegangen wird, dass mit Architektur ein neuer Mensch geschaffen werden kann, hat sich als Reinfall erwiesen, es handelt sich dabei um eine rein wissenschaftliche Vision. Es ist, als ob man sagen würde: Ich erhitze Wasser und nach einiger Zeit kocht es. Im Bereich der Kunst funktioniert diese Logik aber nicht.
Die Sozialwissenschaften folgen eigenen Regeln. Insofern schafft man gewisse Voraussetzungen, und ab einem bestimmten Moment haben die Dinge ein Eigenleben. Es geht darum, sich mit der Autonomie des von dir ins Leben gerufenen, aber nicht kontrollierbaren Phänomens abzustimmen.“
Fotos: Ludovic Dusuzean und Tadeuz Jalocha (unteres Foto)
Es gibt ein anderes, älteres Architekturmodell, bei dem – ausgehend von der Stadtplanung – eine bestimmte Art Stadtbürger geschaffen werden soll. Auf diese Weise sind Baron Haussmann in Paris oder Lucio Costa und Niemeyer in Brasilia vorgegangen. Wie stehen Sie zu diesem Konzept von Architektur?
Diese messianische Herangehensweise, bei der davon ausgegangen wird, dass mit Architektur ein neuer Mensch geschaffen werden kann, hat sich als Reinfall erwiesen, es handelt sich dabei um eine rein wissenschaftliche Vision. Es ist, als ob man sagen würde: Ich erhitze Wasser und nach einiger Zeit kocht es. Im Bereich der Kunst funktioniert diese Logik aber nicht.
Die Sozialwissenschaften folgen eigenen Regeln. Insofern schafft man gewisse Voraussetzungen, und ab einem bestimmten Moment haben die Dinge ein Eigenleben. Es geht darum, sich mit der Autonomie des von dir ins Leben gerufenen, aber nicht kontrollierbaren Phänomens abzustimmen.“
Stoffband Chairless (2010) für Vitra
Foto: Nicole Bachmann
Welchen Einflüssen unterliegt Ihre aktuelle Arbeit?
Seit etwa 15 Jahren versuche ich, Bücher zu lesen, die überhaupt nichts mit Architektur zu tun haben. Jetzt lese ich zum Beispiel gerade die Biographie des brasilianischen Formel-1-Champions Ayrton Senna. Ausgehend von diesem Buch wurde später ein Dokumentarfilm produziert. Senna gewann meist, wenn es regnete und auf sehr schwer befahrbaren Rennstrecken. Er tat Folgendes: Sobald er in die Kurve einfuhr, stieg er mit dem Fuß fünfmal pro Sekunde aufs Gaspedal, um so eine Art minimale Schleuderbewegung auszulösen. Da er ganz genau wusste, dass er deswegen der Konkurrenz voraus war, bat er die verantwortlichen Honda-Ingenieure, einen Motor zu entwickeln, der etwas schneller auf diese fünf plötzlichen Beschleunigungen pro Sekunde in der Kurve reagieren würde − selbst wenn das eine geringere Geschwindigkeit auf gerader Strecke zur Folge haben könnte.
Was hat denn diese Anekdote mit Ihrer Arbeit zu tun?
Das ist genau der Unterschied, den ich in der Architektur bewirken möchte. Ich habe zum beispiel einen Abstand von einem Ziegelstein zwischen der Tür und der Mauer und muss ein Fahrrad unterbringen. Ich verfüge weder über unbegrenzte Ziegelsteine, noch über einen Abstand von fünfzig Ziegelsteinen. Ich weiß, dass die Lösung dieser Problemstellung dazu führen kann, dass alle, die gerne möchten, ihr Fahrrad innerhalb oder außerhalb des Hauses abstellen können − das entspricht einer Verbesserung der Lebensqualität. Dass der Stadtbewohner mit dem Rad zur Arbeit fährt, ist letztlich das Ergebnis der Antwort auf die Frage, wie man den Abstand von Ziegelsteinen konstruktiv in Angriff nimmt.
Foto: Nicole Bachmann
Welchen Einflüssen unterliegt Ihre aktuelle Arbeit?
Seit etwa 15 Jahren versuche ich, Bücher zu lesen, die überhaupt nichts mit Architektur zu tun haben. Jetzt lese ich zum Beispiel gerade die Biographie des brasilianischen Formel-1-Champions Ayrton Senna. Ausgehend von diesem Buch wurde später ein Dokumentarfilm produziert. Senna gewann meist, wenn es regnete und auf sehr schwer befahrbaren Rennstrecken. Er tat Folgendes: Sobald er in die Kurve einfuhr, stieg er mit dem Fuß fünfmal pro Sekunde aufs Gaspedal, um so eine Art minimale Schleuderbewegung auszulösen. Da er ganz genau wusste, dass er deswegen der Konkurrenz voraus war, bat er die verantwortlichen Honda-Ingenieure, einen Motor zu entwickeln, der etwas schneller auf diese fünf plötzlichen Beschleunigungen pro Sekunde in der Kurve reagieren würde − selbst wenn das eine geringere Geschwindigkeit auf gerader Strecke zur Folge haben könnte.
Was hat denn diese Anekdote mit Ihrer Arbeit zu tun?
Das ist genau der Unterschied, den ich in der Architektur bewirken möchte. Ich habe zum beispiel einen Abstand von einem Ziegelstein zwischen der Tür und der Mauer und muss ein Fahrrad unterbringen. Ich verfüge weder über unbegrenzte Ziegelsteine, noch über einen Abstand von fünfzig Ziegelsteinen. Ich weiß, dass die Lösung dieser Problemstellung dazu führen kann, dass alle, die gerne möchten, ihr Fahrrad innerhalb oder außerhalb des Hauses abstellen können − das entspricht einer Verbesserung der Lebensqualität. Dass der Stadtbewohner mit dem Rad zur Arbeit fährt, ist letztlich das Ergebnis der Antwort auf die Frage, wie man den Abstand von Ziegelsteinen konstruktiv in Angriff nimmt.
Aussichtspunkt Las Cruces (2010), Jalisco, Mexiko
Foto: Iwan Baan
Das ist also die Formel 1 – inkrementell?
In Sennas Geschichte habe ich eine weitere, hochrelevante Haltung entdeckt. Wenn er ein Problem im Motor hörte und die Ingenieure sagten, dass die Computer nichts Außergewöhnliches feststellen konnten, zwang er sie dazu, den kompletten Motor auseinanderzubauen − schlussendlich fanden sie dann einen Riss an irgendeinem Einzelteil. Dieses Vertrauen in die eigene Intuition − zu begreifen, dass Intuition eine über den Verstand hinausgehende Fähigkeit ist − spielt in der Architektur eine grundlegende Rolle. Emotionen sind eine Art von Wissen − beispielsweise wenn etwas dich berührt und du es dir nicht erklären kannst… Man sollte mehr auf so etwas vertrauen.
Rafael Gumucio, der dieses Interview geführt hat, ist Autor der Bücher La deuda (Die Schuld) und Milagro en Haití (Wunder in Haiti), darüber hinaus ist er als ständiger Mitarbeiter für die Tageszeitungen La Nación, El Mercurio, La Tercera, El Metropolitano, Las Últimas Noticias, El País, ABC und The New York Times tätig.
Foto: Iwan Baan
Das ist also die Formel 1 – inkrementell?
In Sennas Geschichte habe ich eine weitere, hochrelevante Haltung entdeckt. Wenn er ein Problem im Motor hörte und die Ingenieure sagten, dass die Computer nichts Außergewöhnliches feststellen konnten, zwang er sie dazu, den kompletten Motor auseinanderzubauen − schlussendlich fanden sie dann einen Riss an irgendeinem Einzelteil. Dieses Vertrauen in die eigene Intuition − zu begreifen, dass Intuition eine über den Verstand hinausgehende Fähigkeit ist − spielt in der Architektur eine grundlegende Rolle. Emotionen sind eine Art von Wissen − beispielsweise wenn etwas dich berührt und du es dir nicht erklären kannst… Man sollte mehr auf so etwas vertrauen.
Rafael Gumucio, der dieses Interview geführt hat, ist Autor der Bücher La deuda (Die Schuld) und Milagro en Haití (Wunder in Haiti), darüber hinaus ist er als ständiger Mitarbeiter für die Tageszeitungen La Nación, El Mercurio, La Tercera, El Metropolitano, Las Últimas Noticias, El País, ABC und The New York Times tätig.
Foto: Cristóbal Palma
Die Idee zu den „inkrementellen Häusern“ − Gebäuden, die von den Eigentümern je nach individuellem Bedarf selbst fertigstellt werden − entstand aufgrund chronischen Geldmangels seitens der chilenischen Regierung im Bereich des öffentlichen Wohnungsbaus. Aravena beschloss, große Teile der vorhandenen Mittel ins Design zu investieren. So wuchs hochwertige Architektur heran, die in Eigenleistung individualisiert werden konnte.
Für die diesjährige Architektur-Biennale in Venedig, die am 28. Mai begann, legte Aravena als Kurator den Schwerpunkt auf die Stadt als den Ort, in den sich jeder Entwurf einzufügen habe. Die programmatische Überschrift lautet: „Bericht von der Front“.
„Mit diesem Titel möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeit, Relevanz und Bedeutsamkeit der gegenwärtigen Entwicklungen lenken. Das herkömmliche Konzept von Stadt greift allmählich zu kurz“, so Aravena.
Ihm zufolge müsste, um alle Menschen aufnehmen zu können, die in den nächsten 15 bis 20 Jahren in die Städte ziehen werden, „pro Woche eine Stadt mit einer Million Einwohnern und einem Budget von 10.000 Dollar pro Familie gebaut werden. Wenn wir das versäumen, werden die Menschen zwar trotzdem kommen, dann aber in Favelas leben. Die Frage, vor der wir stehen, ist, wie wir die Favelas von heute konzipieren, damit sie zum Manhattan von morgen werden können. Manhattan war ehemals eine Favela, verfügte jedoch über eine zukunftsfähige Grundstruktur. Das wäre inkrementelle Stadtplanung, die − ganz ähnlich wie inkrementeller Wohnungsbau − ein Ansatz zur Verringerung der Ressourcenknappheit ist. Somit könnte sie einen Lösungsansatz zur Bewältigung der Migration in die Städte darstellen“.